Michael Campioni zeigt seinen vietnamesischen Führerschein, ausgestellt im Jahr 1978.
Michael Campioni zeigt seinen vietnamesischen Führerschein, ausgestellt im Jahr 1978. © Julia Boek
Seit die Grenzen der DDR offen waren, reiste Campioni regelmäßig nach Vietnam. Er war schon 1975 dort gewesen, in einem früheren olympischen Zyklus. Damals war er Hausmeister der DDR-Botschaft in Hanoi gewesen und hatte sich mit den vietnamesischen Mitarbeitern angefreundet. Jetzt überlegte er, ob er seine Türen und Fenster nicht auch in Vietnam verkaufen könnte. Schließlich hatten die Machthaber der vietnamesischen sozialistischen Republik 1989 marktwirtschaftliche Reformen beschlossen. Mit seinem Bekannten Mai Huy Tan suchte er nach Geschäftspartnern für den Aufbau einer Produktion und nahm an öffentlichen Ausschreibungen teil. Diesmal blieb der Erfolg aus – Vietnams Bauboom begann erst zehn Jahre später.
Doch etwas Unerwartetes geschah auf diesen Reisen: Die Vietnamesen fragten Campioni, warum er keine Thüringer Bratwürste mitgebracht habe. Wer in der DDR studiert oder als Vertragsarbeiter in den Fabriken gearbeitet hatte, erinnerte sich gern an die Wurst vom Holzkohlegrill. Kurz vor einem Rückflug nach Deutschland äußerte Campioni im Gespräch mit Mai die Idee, Thüringer Bratwürste für den vietnamesischen Markt zu produzieren. "Wollen wir das nicht gemeinsam versuchen?" Die Männer schauten sich in die Augen und besiegelten das Geschäft per Handschlag.
Danach ging es wieder schnell. Campioni ließ sich in Erfurt von einem Fleischer zeigen, wie man ein Schwein schlachtet und Bratwürste herstellt. Er erfragte Rezepturen, kaufte Gewürze, Senf, eine Wurstfüllmaschine und verschiffte alles nach Hanoi. Mai kümmerte sich um Genehmigungen und mietete eine kleine Produktionshalle. Ein Thüringer Fleischermeister begleitete Campioni nach Hanoi und brachte acht ehemaligen Reisbauern das Wurstmachen bei. Sieben Wochen nach dem Gespräch mit Mai verkaufte Campioni die ersten Xuc xich, Thüringer Rostbratwürste, in einem Hanoier Biergarten.

Die Wurst funktioniert

Zuerst kamen die Familienväter an den Grill, dann schickten sie ihre Kinder. Bald fuhren die Fabrikanten die Produktion hoch und erweiterten das Sortiment um Bockwürste und Leberkäse. 2004 wurde bei Hanoi eine Fabrik gebaut, die Campioni zuvor mit einem Fleischer am heimischen Schreibtisch projektiert hatte. Nun pendelte er zwischen Erfurt und Hanoi. 
Bald wurden die deutsch-vietnamesischen Wurst- und Fleischwaren an Restaurants und Supermärkte in ganz Vietnam geliefert, später auch an die vietnamesische Bahn und Vietnam Airlines. "Dass unsere Wurst so gut funktionierte, während McDonald’s seine Filiale in Saigon mangels Nachfrage wieder zumachte, hat mich stolz gemacht", sagt Campioni. Ganz nach Vietnam ziehen wollte er dennoch nicht. Bei allem war ihm die "Gummizeit" zu fremd, das gemächliche Lebenstempo, und kulturelle Unterschiede wie die möglichst tiefe Verbeugung zur Begrüßung. Er habe aber etwas Wohltuendes schaffen wollen, sagt er. 
JULIA BOEK
Julia Boek ist Journalistin und Chefredakteurin des MagazinsDer Wedding. Derzeit arbeitet sie als Chefin vom Dienst für dietageszeitung.
Den schnellen Beat der Marktwirtschaft hat Campioni jedenfalls gut verinnerlicht. Derzeit arbeiten rund 280 Angestellte in der Duc Viet Food Joint Stock Company, die 2008 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, zuletzt mit norwegischer Beteiligung. Das Unternehmen macht einen Umsatz von rund 20 Millionen Euro im Jahr. 
In Vietnam ist Campioni heute nur noch, um Freunde zu treffen, mit dem Motorrad durchs Land zu fahren und an der chinesischen Grenze Bratwurst zu essen. Aus dem Tagesgeschäft hat sich der 66-Jährige zurückgezogen. Als Gründungsaktionär mit erhöhtem Mitspracherecht hält er ein paar Anteile am Unternehmen. Das Campioni'sche Erbe pflegt Sohn Andreas, der in den USA Marketing und Management studiert hat und als Internationaler Marketingdirektor bei Duc Viet Food arbeitet. Die Verbindung aber ist geblieben: "Ich möchte, dass die Vietnamesen später über mich sagen: Schade, dass der alte Campioni nicht mehr nach Vietnam kommt."
http://www.zeit.de/gesellschaft/2014-10/michael-campioni-portraet/seite-2